„Die Dialektik von Karlsruhe“ Bundesdelegierten-Konferenz von Bündnis 90/Die Grünen

Aus Schwerte nahmen Barbara Stellmacher und Marco Sorg teil

Vom 23. bis zum 26.11.2023 fand die 49. Bundesdelegierten-Konferenz (BDK) von Bündnis 90/Die Grünen in Karlsruhe statt. Zu unserem Team vom Kreisverbands Unna gehörten drei Delegierte und drei Ersatzdelegierte: aus Schwerte waren Barbara Stellmacher und Marco Sorg dabei. Die stellvertretende EU Kommissions-Präsidentin Margrethe Vestager formulierte, worum es bei einem Parteitag geht: Abgesehen von den erforderlichen Entscheidungen sind es Tage zum Netzwerken, für Freundschaften und dafür, Kraft für das eigene Engagement zu sammeln.

Klimaschutz angesichts von Verfassungsgerichtsurteilen

In Karlsruhe sind Die Grünen 1980 gegründet worden. Damals wurde der Partei keine große Zukunft vorhergesagt: Inzwischen hat sie 126.000 Mitglieder und ist in Baden-Württemberg mit 32% stärkste politische Kraft. Karlsruhe ist auch die Stadt des Bundesverfassungsgerichts, eine in diesen Tagen sehr bedeutsame Institution. Mitte November wurde hier entschieden, dass aufgrund der Schuldenbremse die 60 Milliarden Euro aus den Mitteln für die Bekämpfung der Corona-Krise nicht in den Klima- und Transformationsfonds übertragen werden dürfen. Cem Özdemir weist in seiner Rede auf die „Dialektik von Karlsruhe“ hin: mit dem Urteil von 2021 zur Verpflichtung, Klimaschutzziele auch über 2030 hinaus festzulegen, gibt es zwei Verfassungsgerichtsurteile, die in Spannung zueinanderstehen. Die Linie der Grünen ist klar: Die Schuldenbremse wird bejaht, sie soll aber durch eine Investitionsklausel flexibler gestaltet werden. Aufgrund des Verfassungsgerichtsurteils müssen alle Subventionen überprüft werden. „Ich will eine Schuldenbremse, die keine Schulden macht beim Klima, bei der Artenvielfalt, bei Straße und Schiene, bei unseren Kindern“ so Özdemir. Die wiedergewählte Parteivorsitzende Ricarda Lang warnte davor, Klimaschutz und Soziales gegeneinander auszuspielen. Eine Spitze gegen den CDU-Vorsitzenden, der nach dem Verfassungsgerichtsurteil vor allem am Bürgergeld und an der Kindergrundsicherung sparen will. Mehrere Redner:innen griffen den Slogan „Herz gegen Merz“ auf.

Europa-Parteitag

Angesichts der im nächsten Jahr stattfindenden Wahl stand das Thema Europa im Zentrum der Bundesdelegierten-Konferenz. Es wurden 40 Personen auf die quotierte Liste der Europa- Kandidat:innen gewählt. Unser Eindruck war, dass sich die Kandidat*innen durchweg sehr professionell präsentiert haben: Es war bedauerlich, dass nicht eine größere Anzahl von Ihnen auf aussichtsreiche Listenplätze gewählt werden konnte. Derzeit haben 21 Bündnisgrüne ein Mandat in Brüssel. Terry Reintke aus Gelsenkirchen wurde mit überwältigender Mehrheit zur Spitzenkandidatin gewählt. Aktuell ist sie die eine der stellvertretenden Vorsitzenden der Fraktion Die Grünen/EFA im Europaparlament.

Was Wohlstand schützt

Wie bei uns Grünen üblich, wurde das Europa-Wahlprogramm detailliert diskutiert, zahlreiche Änderungsanträge wurden abgestimmt. Das Programm ist in vier Kapitel aufgeteilt:

A) Was Wohlstand schützt,
B) Was Gerechtigkeit schützt,
C) Was Frieden schützt,
D) Was Freiheit schützt.

In unserem Team gab es eine kritische Diskussion darüber, dass „Wohlstand“ an die erste Stelle gesetzt wurde. Offensichtlich ging es vielen Delegierten ähnlich. So gab es Anträge, „Wohlstand“ durch „Lebensgrundlage“ zu ersetzen, die Reihenfolge zu ändern, dynamischere Verben als „schützen“ zu wählen: sie wurden alle abgelehnt. Die Verunsicherungen vieler Menschen in der gegenwärtigen Mehrfach-Krise und das Bedürfnis nach Sicherheit sollten durch die Überschriften ernstgenommen werden. Weiterhin wurde betont, dass Klimaschutz und Wohlstand keine Gegensätze seien, sondern einander bedingen. Gastredner Martin Daum, CEO von Daimler Truck sagte, dass „Transformation … Grundlage für erfolgreiches Unternehmertum“ sei. Das Ziel müsse sein, dass „die beste ökologische Lösung … auch die ökonomischste“ ist. Dazu bedürfe es Steuerung durch eine angemessene CO2- Bepreisung.

Was Frieden schützt

Angesichts des Kriegs Russlands gegen die Ukraine, betonte Annalena Baerbock: „Europa ist unsere Lebensversicherung“. Die EU schützt Frieden und Demokratie. Die Wahl in Polen wurde als Hoffnungszeichen gewertet, dass autokratische Strukturen überwunden werden können. Ricarda Lang bezeichnete die Demokratie als „die kritischste Infrastruktur, die wir haben.“
Einer der bewegendsten Momente der BDK war für uns die Rede der belarussischen Exil-Politikerin Swetlana Tichanowskaja. Sie legte Wert darauf, nicht als Oppositionelle bezeichnet zu werden: Sie selbst betrachte sich als Teil der gewählten Regierung von Belarus. Ihr Ehemann ist zu 19 Jahren Haft verurteilt worden: ihre beiden gemeinsamen Kinder haben ihren Vater seit Jahren nicht gesehen, die Familie weiß nicht, ob er noch am Leben ist. Kritische Belaruss:innen werden z.T. auch im Exil verfolgt: Die Personenschützer für Tichanowskaja waren auf der BDK unübersehbar. „For us Europe is a necessity, not an option”, sagte die Exil-Präsidentin – und: “Europe can only be safe, when Belarus becomes free.”

Gegen Antisemitismus

Das Themenspektrum der BDK ging auch über Europa hinaus. Die Lage in Israel und Gaza nach dem Terrorangriff der Hamas wurde mit sogenannten Dringlichkeitsanträgen eingebracht. Es kamen Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Deutschland zu Wort: Sie beschrieben die bedrohliche Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland, ihre Angst, im öffentlichen Raum als Jüdinnen oder Juden erkannt zu werden. Zahlreiche Redner:innen forderten einen verstärkten Kampf gegen Antisemitismus, es solle mehr Ressourcen für Bildungsprojekte gegen Antisemitismus geben. Es dürfe kein „Ja, aber“ geben, sondern nur ein „nie wieder“ so die Außenministerin: „Jüdinnen und Juden müssen überall sicher leben können.“

Debatte zur Migrationspolitik

Die heftigsten Kontroversen gab es auf der BDK zur Asyl- und Migrationspolitik. Trotz des vielfachen Bekenntnisses zur Verstärkung der Seenotrettung im Mittelmeer, gab es Unmut bei den Delegierten über die umfangreichen Zugeständnisse der grünen Minister:innen bei den Verschärfungen des Asylrechts – auch in unserem Team. Ein Antrag der Grünen Jugend zielte darauf ab, rote Linien in der Asylpolitik zu ziehen und die grünen Regierungsmitglieder daran zu binden. Robert Habeck brachte sich nachdenklich in die Debatte ein: Er verstehe die Kritik und er teile sie auch. Gleichzeitig sei es wichtig, dass die Außenministerin und er Verhandlungsspielräume hätten, die sie nutzen, um das Bestmögliche zum Schutz von Geflüchteten zu erreichen. Er warb deshalb eindringlich dafür, dem Antrag der Grünen Jugend nicht zuzustimmen, da er faktisch ein Misstrauensantrag an die grünen Minister:innen sei – und ein Aufruf, die Regierung zu verlassen. Die Mehrheit stimmte schließlich dagegen, wenn auch nicht so deutlich wie bei den meisten anderen Abstimmungen.

Grüne Politik in „gewendeten Zeiten“

Unser Team ist mit erneuerter Motivation für die grünen Anliegen aus Karlsruhe zurückgekehrt: für den Europawahlkampf im nächsten Jahr, für eine ambitionierte Klimaschutzpolitik und für eine humanitäre Flüchtlingspolitik in schwierigen Zeiten. Der Wirtschaftsminister formulierte mit kämpferischem Elan die Aufgabe grüner Politik in „diesen gewendeten Zeiten“: Es komme darauf an „Notwendigkeiten in Möglichkeiten zu übersetzen“ und die Aufgaben zu lösen, anstatt sie zu beklagen. Die Leitlinie sei ein „pragmatischer Idealismus“: „Unsere Ideologie heißt Wirklichkeit.“

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